Wer Maria 2.0 sagt, muss auch Maria 1.0 mitdenken. Natürlich ist damit die Mutter Jesu gemeint. In den Evangelien spielt sie nur eine untergeordnete Rolle, selbst bei der Kreuzigung (außer bei Johannes) tritt sie vermutlich nur als Mutter des Jakobus (dem Herrenbruder) in Erscheinung. Passion und Auferstehung sind viel enger mit Maria aus Magdala verknüpft, und das übereinstimmend in allen Evangelien.
„Das Kirchenjahr kennt eine große Zahl von Marienfesten und marianischen Gedenktagen. Als klassischer Marienmonat gilt der Mai. Grundlage aller Marienverehrung ist nicht so sehr die jungfräuliche Gottesmutterschaft als vielmehr Marias gläubiges Vertrauen und ihr Gehorsam auf den Anruf Gottes hin. Dadurch wurde Maria zur Mutter aller Glaubenden und zum Urbild der Kirche. Dieser Gedanke ist schon in den Gemeinden des zweiten Jahrhunderts auszumachen. Ab dem fünften Jahrhundert verstärkt sich die Entwicklung, Maria auch in der Liturgie und durch eigene Gedenktage zu verehren.“ Dieses Zitat stammt aus den Internetseiten des Bistums Würzburg.
Wie kam es zu dieser offensichtlichen Verschiebung der Wahrnehmung hin zur Mutter Maria zu Lasten von Maria Magdalena.
Spannend ist ein Blick in das apokryphe (nicht zu den „kanonischen“ Evangelien zählende) Evangelium der Maria, entstanden wohl um 160 n. Chr. Maria Magdalena erzählt von den Worten, die Jesus zu ihr in einer Vision gesagt hatte und gerät daraufhin mit dem Apostel Andreas und mit Simon Petrus in einen Konflikt, der in den denkwürdigen Satz des Petrus mündet: „Sprach Er wirklich ohne unser Wissen mit einer Frau und das nicht öffentlich?“
Petrus nimmt sein Nachfolgeamt ernst. Er setzt den Zweifel an, weil er als Bewahrer der Tradition und oberster Glaubenswächter nicht involviert war. Und er kann es nicht fassen, dass Jesus immer noch an Maria Magdalena festhält („Schwester, wir alle wissen, dass der Retter dich lieber hatte als die anderen Frauen“). Wir sind mit diesem nicht kanonischen Evangelium an einer Bruchstelle. Die Frauenrolle wird ausdifferenziert in zwei „Gegensätzlichkeiten“: hier Maria, die Mutter, jungfräulich und gehorsam, dort Maria Magdalena, die Sünderin und Ehebrecherin, Inbegriff einer weiblichen, eigenständigen Frau, die die Männer anficht, die keinen Platz mehr hat in der patriarchalen Kirche.
Wozu taugen diese provozierten Gegensätzlichkeiten?
Jeder Mensch spürt in sich eine Vielzahl von Ideen, Meinungen, Ansichten. Glaubenssätze konkurrieren darum, in welche Richtung der Mensch denkt, fühlt, handelt. Vom Gegenüber erwarten wir dagegen Klarheit und Eindeutigkeit. Und dies, obwohl wir uns selbst anders erleben oder vielleicht gerade darum. Mit der Unbestimmbarkeit meines Gegenübers kann ich schwer umgehen. Das macht unsicher, macht Angst. Die Gruppe, das Kollektiv setzt dieser Unsicherheit Vorurteile und Schubladendenken entgegen. Damit wird die Welt überschaubarer, man kann besser mit ihr umgehen.
Offensichtlich wollte die/der Autor*in im Jahr 160 noch einmal mit dem Blick auf die Historie den weiblichen Anteil am Heilsgeschehen festzurren. Die Ablehnung durch das Amt ist spürbar. Fortan kamen die Frauen unter die hierarchischen Räder der männlich dominierten Kirche. Wenn ich an meine eigene Zeit im Tübinger Stift zurückdenke, dann waren die Machtverhältnisse täglich „ansichtig“: hier am Tisch die Geistlichkeit und die Männer, die irgendwann dazu gehören wollten, dort in der Küche und bei Reinigungstätigkeiten Nonnen, jungfräulich und gehorsam.
Was will die Bewegung Maria 2.0? Sie will sichtbar machen, wie weiblich die Kirche ist und wie wenig sich das in den Strukturen abbildet. Ich erschrecke immer, wenn Professoren und Würdenträger, denen ich einen wachen Verstand und ein reflektiertes Denken zuschreibe, mit der simplen Begründung unterwegs sind, dass Jesus ein Mann war. Allerdings: es ist noch gar nicht so lange her, da hatten ebenfalls Professoren und Würdenträger ihr Weltbild auf die These begründet, die Erde sei eine Scheibe.
Es gibt Bewegungen, die lassen sich vielleicht bremsen, aber nicht stoppen. Ich bin mir sicher, dass der Aufbruch der Frauen dazu gehört. Und in Maria 2.0 sehe ich beide Marien, die Mutter und die Partnerin Maria aus Magdala. Diese Zusammenschau fordert uns katholische Männer heraus: wir dürfen die künstlich erzeugten und liebevoll gehätschelten Gegensätzlichkeiten nicht mehr zulassen. Eine Frau ist eine Frau ist eine Frau, auch wenn Jesus ein Mann war.