Der Epidemiologe Jon Genuneit plädiert für mehr Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse von Kindern während der Corona-Pandemie. Kitas und Schulen seien zu Beginn der Krise zum Schutz von Erwachsenen und zu Lasten von Eltern geschlossen worden - "aus Sicht der Kinder wird eher selten argumentiert", kritisierte der am Leipziger Uniklinikum tätige Wissenschaftler am Donnerstag. Es gebe aber derzeit keinen wissenschaftlich belegten Grund, Kinder bei bloßem Verdacht auf eine Infektion zu isolieren, weil sie Hygienemaßnahmen nur bedingt einhalten könnten.
Unter Leitung von Genuneit hat eine Gruppe des Kompetenznetzes "Public Health Covid-19", ein Zusammenschluss von über 25 wissenschaftlichen Fachgesellschaften, aktuelle Studien zur Rolle von Kindern beim Infektionsgeschehen in einem Dossier zusammengetragen und daraus Handlungsempfehlungen abgeleitet.
Vor einer erneuten Schließung von Kitas müssten die Konsequenzen für die Kindesentwicklung gegen den Nutzen beim Infektionsgeschehen aufgewogen werden, betonte Genuneit. Die Kontakte mit Gleichaltrigen spielten eine entscheidende Rolle bei der sozialen Entwicklung. "Zudem sind gerade im Laufe der frühen Entwicklung die Risiken für bleibende psychosoziale Belastungen, seelische Erkrankungen und verpasste Bildungschancen besonders hoch."
Das Bundeskabinett hat im Rahmen des Corona-Konjunkturpakets einen weiteren Finanzschub für den Ausbau der Kita-Plätze und der Ganztagesschulbetreuung beschlossen. In der Krise habe sich noch deutlicher gezeigt, wie wichtig eine verlässliche Kinder- und Tagespflege ist, betonte Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) am Mittwoch nach der Kabinettssitzung.
Geplant sind demnach eine Milliarde Euro für weitere 90.000 Kita-Plätze. Die Mittel könnten aber auch für die Kita-Ausstattung oder Hygienemaßnahmen genutzt werden, so Giffey. Vorgabe sei, dass alle Mittel bis Juni 2021 bewilligt seien müssten. Mittlerweile besuchten rund 34 Prozent oder etwa 820.000 Kinder unter drei Jahren eine Kita. Vor dem Rechtsanspruch seien es nur 13 Prozent gewesen. "Wir sehen hier einen gesellschaftlichen Wandel", so Giffey. Trotz aller Ausbaubemühungen gebe es jedoch immer noch eine "Lücke zwischen Bedarf und Betreuungsquote", so Giffey weiter. So liege bei den Kinder unter drei Jahren der Bedarf für eine Kita-Platz bei rund 49 Prozent. Bei den Kinder zwischen drei Jahren und dem Einschulungsalter besuchten etwa 93 Prozent aller Kinder eine Kindertagesstätte, aber auch hier sei der Bedarf von 97 Prozent nicht gänzlich gedeckt. Neben den Kitas sieht das Konjunkturpaket 1,5 Milliarden Euro für den Ausbau der Ganztagesbetreuung von Grundschulkindern vor. Weitere 500 Millionen Euro sind für die digitale Ausstattung von Schulen gedacht. Zudem will sich der Bund wie bei den Kita-Plätzen in vergleichbarer Höhe an den Betriebskosten für die Ganztagsschulplätze beteiligen.
Schwieriger zu lösen, so Giffey weiter, sei das Problem der tausenden fehlenden Erzieher. Dies sei ein Mangelberuf. Giffey plädierte hier für eine deutliche Aufwertung des Erzieherberufs sowie der Ausbildung, die endlich bundesweit schulgeldfrei sein müsse. Giffey bekräftigte zugleich noch einmal ihre Forderung, den Kita-Betrieb schnellstmöglich wieder auf den Regelbetrieb hochzufahren und zugleich die Hygienestandards umzusetzen, um Kinder und Erzieher ausreichend zu schützen. (Familienbund der Katholiken/Sascha Nicolai/KNA)