In der Debatte um die Sterbehilfe sieht die Augsburger Moraltheologin Kerstin Schlögl-Flierl die Kirchen in einer wichtigen Korrekturfunktion. Sowohl die katholische als auch die evangelische Kirche seien im Bereich der Krankenhäuser und der Altenpflege stark engagiert. In ihren Stellungnahmen zur Suizidbeihilfe hätten beide Konfessionen die Bedeutung der Suizidprävention und die Förderung eines gesellschaftlichen Klimas gefordert, in dem Pflegebedürftige so versorgt werden, dass sie nicht um einen medizinisch assistierten Suizid bitten, sagte das Mitglied des Deutschen Ethikrats am Dienstag in einem Interview des Internetportals katholisch.de.
Schlögl-Flierl, die Professorin für Moraltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Uni Augsburg ist, kritisierte eine zu starke Betonung von Selbstbestimmung in der gesellschaftlichen Debatte. Die Gesellschaft interpretiere Selbstbestimmung sehr oft so, als lebe der Mensch autark und ohne soziale Bezüge. "Das Freiheits- oder Selbstbestimmungspathos ist sehr groß." Christen sprächen eher von verantworteter Freiheit und pochten nicht so sehr auf Selbstbestimmung. "In der katholischen Tradition wird die Beziehungsfähigkeit des Menschen, also der relationale Aspekt, die Beziehung zu den anderen wie zu Gott, sehr stark gemacht."
Kirchliche Einrichtungen müssten der Suizidbeihilfe ein klares Nein entgegensetzen, forderte die Moraltheologin. Katholische Krankenhäuser und Hospize müssten sichere Orte sein, an denen medizinisch assistierter Suizid kein Thema sei. So könne die Gesellschaft sehen, "dass man mit diesem Thema auch anders umgehen kann".
Auf die Frage, ob die Kirchen in ethischen Fragen immer weiter auseinander driften, sagte die Theologin: "Ich würde schon sagen, dass es momentan in diesem Bereich sehr knirscht." Sie plädierte dafür, die Kirchen sollten das Gemeinsame betonen, ohne das Trennende zu verschweigen.
Insgesamt nehme sie bei ethischen Fragen eine große Vielfalt im katholischen und evangelischen, aber auch im orthodoxen Bereich wahr. "Die Trennlinien in der Ethik verlaufen momentan eher politisch, kulturell oder lebensweltlich als konfessionell." Zugleich aber herrsche in vielen ethischen Fragen Einigkeit unter den Konfessionen. "In bestimmten Bereichen, wie etwa beim Menschenbild, wurden in den vergangenen Jahren von Lutheranern und Katholiken sogar Dokumente veröffentlicht, die die gemeinsamen Sichtweisen betonen."
Schlögl-Flierl wandte sich zugleich gegen Eindruck, als verlaufe die ethische Debatte in der katholischen Kirche ohne große Widersprüche. "In der Debatte um das Gewissen, und damit auch die Frage nach dem Individuum, lässt sich feststellen, dass der katholisch-lehramtliche Diskurs in der jüngeren Vergangenheit sehr unterschiedlich verlaufen ist", sagte sie. Während Papst Johannes Paul II. stark auf die Anwendung der Norm gedrängt habe, stelle Papst Franziskus eher das Individuum und die Unterscheidung der Geister in den Mittelpunkt. "Die Auseinandersetzung mit dem Gewissen in der evangelischen Tradition ist viel beständiger." (Familienbund der Katholiken/KNA)